Dieses Blog durchsuchen

Freitag, 5. Mai 2017

Tulpenfeld





Tulpenfeld
das Kind in mir
will mitten hindurch






(field of tulips / the child in me / wants to go through it)

Christof Blumentrath




(Übersetzung: Silvia Kempen)
***************************************************************



Tulpen-Predigt

Fenster auf! Es hat der Frühling
Endlich wieder seine Zeit.
Alle Blumen müssen blühen,
Alle Vögel müssen singen,
Alle Mädchen müssen lieben,
Alle Herzen werden weit.

Mädchen mit den süßen Augen,
Komm, setz dich auf meinen Schoß!
Deine Hände muß ich küssen,
Deine Augen muß ich küssen,
Deine Lippen muß ich küssen,
Denn die Freude ist zu groß.

Sieh doch, Kind, die Tulpen haben
Ihre Kelche aufgemacht:
Rote, gelbe und gescheckte,
Tiefe Kelche voller Gluten,
Nichts als Schönheit, nichts als Liebe,
Eine ungeheure Pracht.

Kann denn irgend einer traurig
Unter diesen Flammen sein?
Sieh: das kam aus schwarzer Erde!
Denke: solche Flammen schlafen
Winters unter unsern Füßen!
Nur die Liebe schläft nie ein.

Glaube, Mädchen, an die Erde,
Weil sie voller Liebe ist.
Sind wir doch aus ihr geboren,
Wie die Blumen aus dem Beete.
Schlechtes Kind, das seiner Mutter
Wunderreichen Schoß vergißt.

Laß die Blinden ihre Augen
In das Himmlische verdrehn.
Du, bewußtes Kind der Erde,
Reich wie sie an Saft und Kräften,
Wohlgetane, Starke, Schöne,
Du sollst in die Blumen sehn.

Alles, was das reiche Leben
Dir bestimmt hat, Mädchen, ruht
Auch in diesen Glutenkelchen,
Und es meint's die Mutter Erde
Mit den liebetreuen Kindern
Immer, Mädchen, immer gut.

Liebe ist das Wort der Worte,
Liebe ist des Lebens Wort;
Weißt du das in deinem Herzen,
Weißt du das in deinen Sinnen,
Dann kann nichts dich überwinden,
Deine Mutter hilft dir fort.

Lacht mein Mädchen? Lache, lache,
Liebes Mädchen, lach mich aus!
Weiser ist dein klares Lachen
Als mein Predigen und Dichten,
Schöner ist dein liebes Lachen
Als ein ganzer Tulpenstrauß.

Einen Kuß! Dann in den Garten,
In die Flammen gelb und rot!
Dankbar treue Erdenkinder
Wollen wir den Tag genießen:
Liebe unser einzger Glaube,
Schönheit unser täglich Brot.

Otto Julius Bierbaum (1865-1910)
Aus der Sammlung Frühling
 
 
 
 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen