MorgendämmerungDer Morgen dämmert auf. Nicht jeder kennt
Des jungen Tages lieblichsten Moment,
Die heilige Ruh', des Weltalls Frühgebet,
Das wie ein linder Hauch gen Himmel weht.
Sie liegen träge schlummernd wie im Tod,
Bis sie ersaßt des bunten Lebens Noth,
Mit tausendfält'ger Pflicht sie überstürzt
Und sie zu steter Arbeit treibt und schürzt.
Es wird geschafft, gewuchert und gestrebt,
Es wird erworben, aber nicht gelebt.
Sie langen athemlos am Abend an
Und morgen spielt dasselbe Spiel sodann. —
O Trug der Welt! das nennen Leben sie,
Sie feilschen nur darum und leben nie.
Der Morgen dämmert auf. Das ewige Meer
Liegt feiernd um die stolze Villa her,
Die, auf den Uferfelsen kühn erbaut,
Das Meer beherrscht und in die Lande schaut.
O Dichterglück, das ruhig ihm gegönnt,
Und das ihr nie, Geldmenschen, ahnen könnt,
Das ihn zum Herrn der schönsten Wunder weiht
Und Farbe ihm und Pinsel willig leiht,
In leichtem Zug, der Götter Kunstgenoß,
Zu schaffen wieder, was sein Herz genoß.
Still ist's. Die Welle bricht sich ohne Ton,
Der Vogel schweigt, ob er erwachte schon,
Es rauscht kein Blättchen, keine Grille zirpt,
So schweige Alles, wenn ein Edler stirbt.
Und was sich regt, regt sich so leis und lind,
So süß, wie seinen Mund bewegt ein Kind,
Wenn es im Schlafe lächelt. —
Die Nacht entflieht, doch eh' der Aether rein,
Erglimmt das Meer in klarem Silberschein
Endlos und endlos herrlich, bis gemach
Sich über ihn erhebt der bleiche Tag.
Karl Hermann Schauenburg (1819-1876)